Human Resources
„Benefits greifen oft zu kurz“ – jede:r vierte Erwerbstätige leidet unter mentalen Belastungen

„Benefits greifen oft zu kurz“ – jede:r vierte Erwerbstätige leidet unter mentalen Belastungen

Marié Detlefsen | 19.06.25

Mentale Belastungen zählen zu den größten Herausforderungen im Arbeitsalltag – für Mitarbeitende und Unternehmen gleichermaßen. Im Interview erklärt Jean Bays, wie Führungskräfte die psychische Gesundheit der Belegschaft stärken und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit sichern können.

Psychische Erkrankungen zählen mittlerweile zu den häufigsten Ursachen für Fehlzeiten – mit teils dramatischen Folgen für Unternehmen. Laut dem aktuellen Fehlzeiten-Report der AOK ist die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen in den letzten zehn Jahren um fast 47 Prozent gestiegen. Mitarbeitende fehlen im Schnitt rund vier Wochen pro Fall – eine enorme Belastung für Teams, HR-Abteilungen und das gesamte Unternehmen. In Zeiten von Fachkräftemangel können mentale Belastungen zum echten Wettbewerbsnachteil werden.

Trotzdem wird die Verantwortung für mentale Gesundheit noch viel zu oft auf die Mitarbeitenden selbst abgewälzt – durch Stress-Management-Kurse, Fitnessstudioabos oder Achtsamkeits-Apps. Maßnahmen, die zwar gut gemeint sind, aber meist an der Oberfläche bleiben. Denn mentale Gesundheit braucht mehr als Einzelangebote: Sie braucht einen ganzheitlichen, strukturellen Ansatz – vor allem in hybriden Arbeitswelten, in denen der Arbeitsplatz nicht nur im Büro, sondern auch zu Hause und unterwegs stattfindet.

Zeitdruck und fehlender Zusammenhalt bestärken mentale Belastungen

Das Statistische Bundesamt präsentiert allerdings erschreckende Zahlen: So leidet etwa jede:r vierte Erwerbstätige unter seelischen Belastungen, welche das Wohlbefinden einschränken. Als Hauptursachen nennen Betroffene Zeitdruck, herausfordernde Kund:innenkontakte, aber vor allem auch eine schlechte Zusammenarbeit im Team. Gerade die interne Zusammenarbeit ist oft ein Indikator für tieferliegende Probleme – von schwacher Führung über mangelnde Transparenz bis hin zu fehlendem Teamzusammenhalt. Deshalb ist es zu kurz gedacht, die Verantwortung allein bei den Individuen zu suchen.

Doch wie genau können Unternehmen mentale Gesundheit wirklich fördern und welche Rolle spielt die Arbeitsumgebung? Um diese und weitere Fragen zu klären, haben wir in einem Interview mit Jean Bays gesprochen. Sie ist Head of People bei Neat und gestaltet Recruiting-Strategien sowie Mitarbeiter:innenprogramme, um eine kreative, engagierte und wachstumsorientierte Unternehmenskultur zu fördern.

Das Interview

OnlineMarketing.de: Wie wird mentale Gesundheit in Unternehmen messbar gemacht oder eingeordnet, beziehungsweise wird erst reagiert, wenn jemand zum Beispiel mit einem Burn-out ausfällt?

Es gibt keinen gesetzlichen Standard, wie Unternehmen mentale Gesundheit systematisch messen oder managen müssen. Die Sensibilität für mentale Gesundheit und Stress ist zwar deutlich gestiegen, oft wird aber erst reagiert, wenn Mitarbeitende bereits ausgebrannt sind oder krankheitsbedingt ausfallen. Der anstehende Generationenwechsel bringt hier frischen Wind: Millennials und die Generation Z haben eine ganz andere Erwartungshaltung an Arbeitgeber:innen. Mentale Gesundheit ist für sie ein unverhandelbarer Faktor bei der Wahl des Arbeitgebenden.

Für Unternehmen wird es deshalb immer mehr zur Pflicht, dieses Thema aktiv und systematisch anzugehen. Mentale Gesundheit umfasst viele Facetten – von Stress über Arbeitszufriedenheit bis hin zur Identifikation mit der Organisation und ihren Zielen und Werten. Stress selbst ist subjektiv: Was den einen viel Kraft kostet, lässt die andere kalt. Deshalb können Unternehmen Stress nicht einfach über objektive Werte abbilden, sondern müssen die individuellen Erfahrungen ihrer Belegschaft abfragen – zum Beispiel über regelmäßige Umfragen oder Puls-Checks.

Die Verantwortung für die mentale Gesundheit wird oft auf die Mitarbeitenden abgeschoben. Wie können Arbeitgeber:innen deiner Meinung nach aktiv gegensteuern?

Gesundheitsfördernde Maßnahmen funktionieren nur dann wirklich, wenn sie die Arbeitsrealität berücksichtigen. Fünffach überlastete Mitarbeiter:innen profitieren nicht von noch mehr Stress-Management-Trainings – was sie brauchen, ist eine Entlastung durch Verstärkung im Team. Das kostet zwar mehr Geld, amortisiert sich aber langfristig durch geringere Fehlzeiten und höhere Produktivität. Unternehmen setzen oft auf starre Regelwerke für Hybrid- oder Remote-Arbeit, was viele Mitarbeitende eher abschreckt. Stattdessen sollten sie mit attraktiven Anreizen dafür sorgen, dass das Büro zum Wunscharbeitsort wird – zum Beispiel durch flexible, bedürfnisorientierte Arbeitsmodelle und eine durchdachte Gestaltung der Arbeitsumgebung.

Hybride Arbeitsmodelle sind heute Standard. Welche besonderen Herausforderungen bringt das für die mentale Gesundheit – und wie können Unternehmen hier gut gegensteuern?

Das Gute am Home Office: Es schenkt wertvolle Lebenszeit und reduziert Belastungen. Für viele ist das inzwischen so wichtig, dass ein großer Teil der Beschäftigten sogar kündigen würde, wenn sie keine flexiblen Arbeitsmodelle bekommen. 

Das bedeutet für Unternehmen: Sie müssen sich auf die neue Realität einstellen, wenn sie Talente anziehen und langfristig binden wollen. Es gilt, hybride Arbeit so zu gestalten, dass sie mental entlastet und nicht neue Stressquellen schafft. Dazu gehört, technische Barrieren abzubauen – mit stabiler Infrastruktur, funktionierenden Videolösungen und smarten Kollaborations-Tools, die hybrides Arbeiten wirklich ermöglichen. Auch die Büroumgebung muss so gestaltet sein, dass sie den Bedürfnissen von Mitarbeitenden entgegenkommt, mit flexiblen Arbeitsplätzen, Rückzugsorten und Raum für sozialen Austausch. Gleichzeitig braucht es klare Kommunikation, transparente Erwartungen und eine Kultur, die psychische Gesundheit ernst nimmt.


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Die Studie „Arbeitsumgebungen von morgen“ zeigt, dass auch Faktoren wie Lärmemissionen oder die Identifikation mit dem Unternehmen die mentale Gesundheit beeinflussen. Wie lassen sich solche Einflussfaktoren konkret gestalten?

Lärm ist ein unterschätzter Stressfaktor: Schon Geräusche unterhalb der offiziellen Grenzwerte – etwa Gespräche im Großraumbüro – können Konzentration und Wohlbefinden massiv beeinträchtigen. Mit klugem Raumdesign lässt sich das vermeiden: Rückzugsorte, schallabsorbierende Materialien und gut strukturierte Zonen machen den Unterschied. Viele Unternehmen denken hier gerade um – etwa, indem sie ungenutzte Flächen durch Flexdesk-Konzepte freimachen und neue Bereiche für Ruhe, Kollaboration oder ungestörtes Telefonieren schaffen. Ebenso entscheidend ist die technische Infrastruktur. Reibungslos funktionierende Videokollaborations-Setups, intuitiv bedienbare Meeting-Räume oder smarte Buchungs-Tools reduzieren Frust und fördern echte Zusammenarbeit – gerade in hybriden Teams.

Oft setzen Unternehmen auf Benefits wie Achtsamkeits-Apps oder Fitnessstudioabos. Warum greifen solche Einzelmaßnahmen deiner Meinung nach zu kurz?

Das sind tolle Maßnahmen. Doch wie das Wort ,Benefits‘ schon sagt, sind sie meist nur ein Zusatzangebot. Sie können zwar kurzfristig helfen, Stress abzubauen oder Motivation zu fördern, greifen aber oft zu kurz, wenn die grundlegenden Rahmenbedingungen nicht stimmen. Wenn Mitarbeitende dauerhaft unter hohem Druck stehen, zu viel arbeiten müssen oder eine schlechte Führung erleben, können Apps für Achtsamkeit oder ein Fitnessstudioabo diese strukturellen Probleme nicht lösen. Mentale Gesundheit braucht ein ganzheitliches Konzept, das bei der Arbeitsbelastung ansetzt.


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Was macht für dich einen ganzheitlichen Ansatz zur Förderung der mentalen Gesundheit aus – und wie kann dieser im Arbeitsalltag verankert werden? Welche Rolle spielen Führungskräfte in diesem Zusammenhang?

Ein solcher Ansatz berücksichtigt den Menschen in seiner Gesamtheit – körperlich, emotional, sozial und psychologisch. Dabei geht es darum zu schauen, wie die Arbeit organisiert wird, wie klar die Kommunikation läuft, ob Rollen gut geklärt sind oder Wertschätzung gelebt wird. Führungskräfte spielen in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle. Sie sind Vorbilder im Umgang mit der eigenen Belastung und prägen das psychologische Sicherheitsgefühl im Team. Wenn sie aktiv zuhören, Unsicherheiten offen ansprechen und Überlastung ernst nehmen, schaffen sie Raum für Offenheit und Vertrauen. Damit sie dieser Rolle gerecht werden können, brauchen sie Unterstützung, zum Beispiel durch Schulungen oder den Austausch mit anderen Führungskräften.

Welche positiven Effekte hast du beobachtet, wenn Unternehmen aktiv in die mentale Gesundheit ihrer Mitarbeitenden investieren – sowohl wirtschaftlich als auch kulturell?

Wenn Unternehmen gezielt in die mentale Gesundheit ihrer Mitarbeitenden investieren, profitieren sie gleich mehrfach: Wirtschaftlich führt dies zu weniger Fehlzeiten, höherer Produktivität und geringerer Fluktuation. Gleichzeitig stärkt es die Arbeitgeber:innenmarke und macht das Unternehmen attraktiver für Fachkräfte, die so besser gewonnen und gehalten werden können. Kulturell entsteht dadurch ein vertrauensvolles Miteinander, psychologische Sicherheit wird gefördert und die Mitarbeitenden identifizieren sich stärker mit ihrem Unternehmen. In einem solchen Umfeld kommunizieren Teams offener, lernen effektiver und arbeiten langfristig innovativer zusammen.


Wir bedanken uns recht herzlich für das schriftliche Interview mit Jean Bays sowie für die spannenden Insights aus ihrer Perspektive.


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