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Digitale Barrierefreiheit in Deutschland: Zwischen Fortschritt und Baustellen

Digitale Barrierefreiheit in Deutschland: Zwischen Fortschritt und Baustellen

Marié Detlefsen | 11.06.25

Digitale Barrierefreiheit ist nicht länger ein Nice-to-have, sondern gesetzlich verpflichtend – und in vielen Unternehmen längst Thema. Doch zwischen Bewusstsein und Umsetzung klaffen teils große Lücken, wie aktuelle Zahlen zeigen.

Mit dem Inkrafttreten des European Accessibility Act (EAA) ist das Thema digitale Barrierefreiheit für viele Unternehmen in Deutschland nicht mehr nur eine moralische Verpflichtung, sondern eine rechtliche Notwendigkeit. Ziel ist es, digitale Angebote – von Websites über Apps bis hin zu E-Books und Selbstbedienungsterminals – so zu gestalten, dass sie auch für Menschen mit Behinderung problemlos nutzbar sind. Dazu gehören essentielle Maßnahmen wie die Unterstützung von Screenreadern, die Bereitstellung von Untertiteln für Videos, die Möglichkeit zur Tastaturnavigation und die Gewährleistung ausreichender Farbkontraste. Doch wie weit sind Unternehmen hierzulande bereits gekommen? Ein aktueller Report von Applause gibt Einblicke in den Status quo und zeigt: Es gibt ermutigende Entwicklungen, aber auch ernüchternde Lücken.

Der Weg zu mehr digitaler Barrierefreiheit

Die Grundlage der digitalen Barrierefreiheit bilden Standards wie die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG). Doch die bloße Einhaltung dieser Richtlinien ist nur der Anfang. Barrierefreiheit im digitalen Raum bedeutet weit mehr als nur die Einhaltung technischer Mindestanforderungen. Es geht darum, inklusive Erlebnisse zu schaffen – digitale Produkte, die nicht nur zugänglich, sondern intuitiv, funktional und für alle Nutzer:innen verständlich sind.

In der Praxis verstehen immer mehr Unternehmen, dass digitale Barrierefreiheit kein Nischenthema mehr ist. Laut einer aktuellen Umfrage unter über 1.500 Fachleuten aus den Bereichen Design, Entwicklung und Qualitätssicherung sehen 83,9 Prozent die Barrierefreiheit im Jahr 2025 als zentrale oder zumindest wichtige Priorität für ihr Unternehmen – ein Anstieg um vier Prozent gegenüber dem Vorjahr.

83,9 Prozent sehen die Barrierefreiheit derzeit als wichtige Priorität für ihr Unternehmen (mit einem Klick aufs Bild gelangst du zur größeren Ansicht)
83,9 Prozent sehen die Barrierefreiheit derzeit als wichtige Priorität für ihr Unternehmen (mit einem Klick aufs Bild gelangst du zur größeren Ansicht), © Applause

So erfreulich das wachsende Bewusstsein ist – in der Umsetzung zeigt sich ein gemischtes Bild. Zwar geben 80 Prozent der Befragten an, dass es in ihrem Unternehmen Verantwortliche für Barrierefreiheit gibt. Und immerhin 57,3 Prozent denken bereits in der Planungsphase von Software-Projekten an barrierefreie Gestaltung. Doch gleichzeitig zeigen sich deutliche Lücken bei Fachwissen, Ressourcen und Prozessen.

So verfügen zwei Drittel der Unternehmen nicht über ausreichend internes Know-how oder Personal, um kontinuierlich auf Barrierefreiheit zu testen. Fast ein Viertel nutzt überhaupt keine Metriken, um die Qualität der digitalen Barrierefreiheit zu überwachen. Und bei mehr als 37 Prozent gibt es keine funktionierenden Mechanismen, um zu verhindern, dass fehlerhafte oder unzugängliche Features live gehen. Die Folge: Auch bekannte Hürden bleiben bestehen – fast die Hälfte der Organisationen ist sich aktuell technischer Barrieren für Nutzer:innen assistiver Technologien auf ihrer Website oder App bewusst.

KI als Werkzeug für digitale Barrierefreiheit

Ein besonders dynamisches Feld ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Kontext der digitalen Barrierefreiheit. Bereits über 40 Prozent der befragten Unternehmen planen, KI-basierte Lösungen einzusetzen, um Barrieren zu erkennen oder zu beheben. 84,2 Prozent sehen in der Technologie großes Potenzial für heutige und zukünftige Anwendungen im Accessibility Testing.

Über 40 Prozent der befragten Unternehmen planen KI-basierte Lösungen einzusetzen, um digitale Barrieren zu beheben, © Applause
Über 40 Prozent der befragten Unternehmen planen KI-basierte Lösungen einzusetzen, um digitale Barrieren zu beheben, © Applause

Doch auch hier ist Vorsicht geboten: Automatisierte Tools identifizieren derzeit nur etwa 20 bis 40 Prozent der tatsächlichen Barrieren. Sie sind kein Ersatz für menschliches Testen – insbesondere nicht durch Menschen mit Behinderungen selbst. Hinzu kommen die Risiken von Fehlalarmen und falsch-positiven Ergebnissen, die wiederum erfahrene Fachkräfte zur Einordnung erfordern. Ohne eine klare Strategie und fundierte Expertise bleibt der Einsatz von KI ein zweischneidiges Schwert.

Digitale Barrierefreiheit stärkt auch die Markenreputation

Viele Organisationen setzen sich bereits jetzt das Ziel, qualitativ hochwertige und inklusive Nutzer:innenerlebnisse zu schaffen, die über die bloße Nutzbarkeit hinausgehen. Die digitale Barrierefreiheit sowie inklusives Design sind zentrale Bestandteile einer ganzheitlichen Qualitätssicherung. Wer barrierefrei gestaltet und testet, stellt nicht nur die Einhaltung der WCAG sicher, sondern bereitet sich auch auf neue gesetzliche Vorgaben wie das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), die deutsche Umsetzung des Europäischen Barrierefreiheitsgesetzes (EAA), vor. Aus Marketing-Sicht stärkt digitale Barrierefreiheit zudem die Markenreputation – denn Nutzer:innen meiden zunehmend Angebote, die nicht als inklusiv wahrgenommen werden oder sie ausschließen. Alexander Waldmann, Vice President bei Applause, sagt über die Entwicklungen:

Inzwischen ist den meisten Organisationen klar, dass Barrierefreiheit keine Option, sondern ein Muss ist. Gerade für Marketer:innen gilt: Barrierefreie Produkte sind für mehr Kund:innen nutzbar. Das steigert sowohl Umsatz als auch Kundenbindung. Unternehmen, die Qualität und Inklusion in den Vordergrund stellen, profitieren außerdem von einer stärkeren Markenreputation bei Verbraucher:innen, die an einen fairen Zugang zu Technologie glauben.


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Barrierefrei Jobs finden und Videos schauen

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© Greg Bulla – Unsplash


Drei Tipps für eine bessere digitale Barrierefreiheit

Doch wie können Unternehmen den Weg zur digitalen Inklusion wirkungsvoll beschreiten? Im Folgenden haben wir drei Tipps für dich zusammengetragen:

  1. Barrierefreiheit als Teil von Diversität denken: Letztlich geht es bei Accessibility nicht nur um Technik, sondern um Menschen. Digitale Angebote sollten so gestaltet werden, dass sie die Realität aller Nutzer:innen widerspiegeln – auch jener, die mit Einschränkungen leben. Das bedeutet: zuhören, einbeziehen, testen und ständig verbessern. Zum Beispiel können Professional Accessibility-Tester:innen die digitalen Anwendungen testen oder an Studien teilnehmen, um die Nutzbarkeit von Apps, Websites, digitalen Tools und Plattformen zu bewerten.
  2. Ganzheitliche Verankerung im Unternehmen: Es reicht nicht, auf einzelne Tools oder Checklisten zu setzen. Digitale Barrierefreiheit muss fest in den Prozessen, der Unternehmenskultur und der Personalentwicklung verankert sein. Dazu gehören kontinuierliche Schulungen, Tests in allen Phasen der Software-Entwicklung (SDLC) sowie das Einbinden von Menschen mit Behinderungen in User Research und Feedback-Prozesse. Inclusive Design Experts oder Accessibility Experts können unter anderem übergreifende Strategien für barrierefreies Software-esign entwickeln sowie digitale Angebote auf Barrierefreiheit prüfen und konkrete Empfehlungen zur Optimierung geben.
  3. Die KI intelligent und verantwortungsvoll nutzen: Automatisierte Systeme können nützlich sein, aber sie müssen sinnvoll eingebettet und stets durch manuelle Prüfungen ergänzt werden. Besonders bei neuen Technologien wie KI ist es essenziell, auch ethische Aspekte zu bedenken und vielfältige Perspektiven in Entwicklung und Testing einzubeziehen.

Mehr Teilhabe durch Inklusion

Die digitale Barrierefreiheit ist zwar in vielen Unternehmen angekommen, jedoch klaffen Anspruch und Realität noch oft auseinander. Wer digitale Barrierefreiheit ernst meint, muss sie als kontinuierlichen Prozess begreifen: interdisziplinär, inklusiv und mit echtem Commitment auf allen Ebenen. Nur so kann aus gesetzlichem Zwang echte Teilhabe entstehen – für alle. Waldmann appelliert an alle Unternehmen:

Es ist wichtig, dass Menschen mit Behinderungen Produkte mit ihren eigenen unterstützenden Technologien testen und bewerten. Echtes, relevantes Feedback von echten Personen – also Tests mit Nutzer:innen mit temporären oder dauerhaften Seh-, Hör-, Mobilitäts- oder kognitiven Einschränkungen – trägt dazu bei, inklusive und optimale Erlebnisse für alle zu gewährleisten. Genau hier kommen unsere Accessibility Operations Manager und Professional Accessibility Tester ins Spiel, die gezielt zusammengestellte Teams für diesen Zweck koordinieren.


BFSG 2025

– in 5 Schritten zur digitalen Barrierefreiheit für deine Videos

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© Brooke Cagle – Unsplash

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