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Die Rückkehr der Gießkanne – 10 Thesen zum Marketing für 2023
Ralf Scharnhorst auf der d3con 2022, eigene Quelle

Die Rückkehr der Gießkanne – 10 Thesen zum Marketing für 2023

Ralf Scharnhorst | 20.12.22

Ralf Scharnhorst gibt seit 2001 jedes Jahr Denkanstöße und Prognosen für die nahe Zukunft. In diesem Beitrag findest du 10 Marketing-Tipps für das kommende Jahr.

1. Die Rückkehr der Gießkanne: 30 Prozent auf alles

Wer in den vergangenen 15 Jahren in Online-Werbung einstieg, wusste: Mit Online-Werbung lassen sich praktisch alle Konsument:innen in Deutschland erreichen. Vorher war das anders, noch nicht jede:r war schon im Internet. Diese Uhr dreht sich aktuell rückwärts. Es ist zwar weiterhin jede:r Konsument:in irgendwie online, aber nicht unbedingt per Cookie-Daten adressierbar. 2016 wies ich darauf hin, inzwischen ist die Lage ernst.

Nimmt man nun an, dass 30 Prozent der User Cookies verweigern, erreicht man im Zweifel nur noch 70 Prozent der eigenen Zielgruppe. Bei den konsumstarken, aber datenreduzierten Apple Usern kann das noch extremer ausfallen. Sollten Advertiser also zurück und wieder mehr in analogen Medien werben? Nein: spezielle Kampagnen für die User, die sich nicht tracken lassen, sind das neue Offline Marketing. Diese Gießkanne gehört als ergänzendes Werkzeug neben die Targeting-Pinzetten.

2. Jetzt noch Daten horten – billiger wird es nicht

First-Party-Daten sind jetzt noch so billig zu bekommen wie nie wieder. Einerseits: Noch funktionieren Cookies recht gut in vielen Bereichen. Andererseits: Die E-Mail-Adresse ist der neue Cookie. Auf ihrer Basis werden – die Zustimmung der User vorausgesetzt – Daten aus unterschiedlichen Quellen zusammengeführt. Aber wie lange funktioniert das noch?

Wirklich im Interesse der Nutzer:innen und im Sinne der Gesetzgeber:in ist es nicht. Und auch die Technik entwickelt sich weiter: Immer mehr E-Mail Provider bieten Einweg-E-Mail-Adressen an, die nur für einen Zweck genutzt werden, wie für dieses eine Gewinnspiel, diesen einen Newsletter oder diese Bestellbestätigung. Auf ihrer Basis können keine Daten mehr zusammengeführt werden.

3. Ad-opt-Algorithmen sind wie Staubsaugroboter

Werbeoptimierungsalgorithmen funktionieren derzeit häufig wie die zweite Generation Staubsaugroboter. Die erste Generation war nicht gründlich, aber hat den Dreck immerhin gleichmäßig verteilt. Die zweite Generation lief mit ein paar Umwegen unter das Sofa oder in die nächste Ecke und blieb dort hängen. Das gleiche Risiko besteht aktuell für Online-Kampagnen: Wer sie unkontrolliert algorithmisch optimieren lässt, bekommt daher oft nicht mehr die ganze Zielgruppe geliefert, sondern nur einen kleinen Teil davon.

Staubsaugroboter beobachtet von Katzen
Staubsaugroboter beobachtet von Katzen, © YoonJae Baik (Unsplash)

Im E-Commerce ist es nicht kritisch, wenn bei kleinem Budget nur die effizienteste Zielgruppe erreicht wird. Aber wenn auch etwas für die Marke getan werden soll und auf Klickrate optimiert wird, besteht beispielsweise immer stärker das Risiko, dass eine Kampagne mit der Zielgruppe 18 bis 64 Jahre nur noch an 18- bis 25-Jährige ausgeliefert wird, weil in dieser Gruppe die meisten Klicks zustande gekommen sind. Es bleibt also nur: manuell kontrollieren und auf die dritte Generation der Staubsaugroboter, pardon, der Algorithmen zu warten.

4. Bezahlter Journalismus kommt zurück

Hätte sich Corona weltweit so schnell ausbreiten können, wenn es in China eine freie Presse gäbe? Oder wäre es dann in China auch längst erledigt? Das lässt sich schwer sagen – aber es wird kaum jemand bestreiten, dass wir freie Berichterstattung mehr brauchen denn je.

Das Mediennutzungsverhalten hat sich geändert: weg vom World Wide Web hin zu geschlossenen Apps. Beeinflusst durch Fake News und auch immer öfter Deep Fakes wird es sich ändern hin zu mitunter vertrauenswürdigen Quellen. Wenn selbst Video-Interviews gefälscht werden, dann können wir Nachrichten nicht mehr auf Social Media konsumieren, ohne einen Faktencheck im Hintergrund anzustreben. Hier liegt Potential für ein neues journalistisches Angebot. Das Rennen ist bereits eröffnet zwischen so ungleichen Wettbewerber:innen wie Spiegel Online, Google News und Krautreporter. Es kann aber zehn Jahre dauern, bis es entschieden ist.

5. Adobe hat gewonnen gegen das World Wide Web

Tesla erstellt Bedienungsanleitungen als PDF – nicht als Website. Ebenso sind die Formulare von Behörden im PDF-Formate zu finden. Und die Zeitungen, die digitale Angebote monetarisieren, tun dies oft auf PDF-Basis.

News Websites müssen mit einer Halbierung der Einnahmen rechnen, sobald Google die eigenen „Maßnahmen zum Datenschutz“ umgesetzt hat. Und das in Zeiten, in denen der first Screen das kleine Smartphone ist, das ohnehin schon wenig(er) Platz für Werbung bietet. Für Zeitungsseiten, die als PDF verbreitet werden, gilt das nicht. Die Leser:innen wollen Responsives Design. Aber die Sender:innen der Inhalte behalten ihre Macht und stellen von Papier nur auf das um, was dem am nächsten kommt.

6. Bestandskund:innen-Marketing ist die neue Neukund:innen-Gewinnung

Und Service, CRM und die daraus wachsenden Weiterempfehlungen die neue Werbung. In vielen Branchen gibt es keine Neukund:innen mehr. Am deutlichsten wird das in der Telekommunikation: Welcher zahlungsfähige Mensch über 18 Jahre hat denn noch kein Internet und Mobilfunk? Auch die Autohersteller:innen, die gerne mit jungen Menschen werben, wissen: Die kaufen so bald kein neues Auto, aber die älteren Bestandskund:innen tun das alle drei bis fünf Jahre. Sie müssen aber in einem Markt, in dem sich die Produkte gerade radikal ändern (weil sie keine Auspuffrohre mehr haben), bei der Marke gehalten werden.

Und die Idee lässt sich auf fast alle Branchen übertragen. Denn wer hat denn noch keine Lieblingsschokoladenmarke, eine:n Lieblingsoptiker:in und Lieblingsschuhe? Eine Lösung sind Service-Innovationen statt Produktinnovationen. Samsung gibt es zwar nicht offen zu, aber hat es erkannt: Beim Smartphone als Produkt kann man nicht mehr viel Neues bringen. Aber beim Service. Defekte Samsung-Produkte müssen nicht mehr eingeschickt werden, Samsung kommt zu Kund:innen und repariert vor der Haustür. Bestandskund:innen werden wichtiger, Neukund:innen teurer.

7. Niemand vermisst Avatare

Kaum jemand will das Metaverse – zumindest in der Form, in der es uns aktuell gezeigt wird. Wir haben in den Zeiten des Home-Office-Zwangs viel vermisst und konnten Kolleg:innen nur auf dem Bildschirm sehen. Kurzsichtigkeit trendet nicht nur bei Optiker:innen, sondern auch in CEO-Entscheidungen. Keine Abhilfe verspricht es, das zweidimensionale Live-Video-Bild des:der Kolleg:in gegen einen Avatar auszutauschen. Wir brauchen bessere Kameras, Monitore und Raumklang statt VR-Brillen.

Wer in den vergangenen zwei Jahren Second Life nicht genutzt hat, muss die nächsten zwei Jahre nicht in das Metaverse einsteigen. Für das Marketing gilt wie immer: Wer als erstes dabei ist, hat einen PR-Erfolg. Wer als zweites dabei ist, kauft teuer, aber ohne Nutzen. Und irgendwann später gilt „the third mouse gets the cheese.“ Die gute Nachricht: 2023 muss keine Marketing-Abteilung ins Metaverse einsteigen, First-Mover-Vorteile gibt es nicht mehr. Jetzt gilt: abwarten, ob man 2024 damit Geld verdienen kann.

Nur ganz wenige Menschen wollen das Metaverse. Und davon wollen es noch weniger von Facebook. Vergessen wir also die Virtual Reality von Meta und warten auf eine Augmented-Reality-Brille von Apple, bei der einem nicht schwindlig wird und durch die man auch noch im Meeting seine reale Kaffeetasse sehen kann.

8. Werbung im Metaverse: können wir uns sparen

Und das gleich aus drei Gründen: Erstens gibt es ja bereits In-Game Advertising. Metaverse Advertising wird sich das zum Vorbild nehmen. Wer sich aber noch nicht mit In-Game Advertising auskennt: jetzt ist ein guter Zeitpunkt, sich damit zu beschäftigen.

Zweitens wird das Metaverse derzeit am stärksten vom Meta-Konzern vorangetrieben. Dessen Geschäftsmodell ist und bleibt werbefinanziert – Mark Zuckerberg wird es also uns Werbungtreibenden schon leicht machen, ihm unser Geld zu überweisen.

Drittens bleibt noch die Frage, wie viele User sich über Stunden eine Datenbrille aufsetzen wollen und welche Vorteile das gegenüber Monitoren und weiter entwickelten Videokonferenzen bieten wird. Wahrscheinlich wird es nach dem Hype nur eine Nischenanwendung, wie es Google Glass zum Beispiel in der Fernwartung von Flugzeugen wurde.

Es ist eine sehr mutige Wette von Zuck, so stark auf das Metaverse zu setzen. Wie kann man am besten beobachten, ob Menschen das neue Medium annehmen möchten? Eine Befragung der durchschnittlichen Bevölkerung wird es nicht beantworten – „people did not want the Automobile, but faster horses“ hätte Henry Ford gesagt. Aber wir können die Entwicklung des Börsenkurses von Meta beobachten. Er setzt sich zusammen aus den prognostizierten mittelfristigen Werbeeinnahmen (vergleiche Reichweitenverluste und Datenschutz, auch hier tobt ein Kampf Apple gegen Facebook) und dem Ausmaß, ob Expert:innen und der etwas besser informierte Teil der Öffentlichkeit an das Metaverse glauben.

9. Das große neue Ding nach dem Smartphone kommt nicht: Es sind viele kleine

Hier gilt der weise Spruch: „Die Zukunft existiert bereits, sie ist nur ungleich verteilt“. Denn die Nachfolger:innen – besser gesagt, die Ergänzungen des Smartphones als ständige:r Begleiter:in und Zweithirn sind: Voice Interaction wie mit Alexa, dem Google Assistant und Siri. Wearables von Smart Watches bis In-Ears. Und, Vorsicht, Buzzword: Künstliche Intelligenz. Am meisten über uns erfahren kann, wer die Fotos auf unserem Smartphone auswertet. Huawei, Google und Apple setzen dabei bereits zum nächsten Wissenssprung an: Erst wenn du die automatisch zusammengestellten Foto-Alben-Titel von deinem Smartphone siehst, weißt du, was die künstliche Intelligenz bereits über dich denkt.

Der Computer ist weit gesprungen vom Rechenzentrum auf den Schreibtisch in die Hosentasche – nun bis ins Ohr. Bald also vor unserem Auge und mit direkter Leitung ins Gehirn wie bei Neuralink?

Was wir als nächstes brauchen, sind bessere Bildschirme. Und Autos oder Verkehrsmittel, die sich besser mit uns, unseren Daten und unseren Smartphones verbinden. Warum muss ich dem Auto noch sagen, ob mir kalt oder warm ist – kann es das nicht von meiner Smartwatch erfahren?
Warum muss ich dem Auto noch sagen, wo ich hinfahren will? Das steht doch längst in meinem Kalender.

Von der maroden Köhlbrandbrücke, einer Container-Lebensader im Hamburger Hafen, gibt es bereits einen perfekt visualisierten digitalen Zwilling, auf dem alle Gesundheitsdaten in Echtzeit ablesbar sind – das kann mit genügend Daten auch von Menschen entstehen und Leben verlängern.

10. Das Social-Media-Monopol ist gebrochen

2010 schrieb ich: Jede Zielgruppe bekommt ihr eigenes, passendes Social Network. 2013 musste ich mich korrigieren und schrieb: Facebook wird eine Monopolstellung erreichen und der:die zweitgrößte Vermarkter:in werden. Spätestens 2019 war klar: Ab jetzt geht es mit Facebook bergab.

Facebook hat keine erfolgreiche Innovation mehr hervorgebracht seit den Gruppen. Die Shopping- und Dating-Funktionen sind gescheitert. Längst stehen die Nachfolger:innen von Facebook fest: Instagram und TikTok. Dazu kommt ein großer Trend, Inhalt nicht mehr in Social Networks, sondern über Messenger zu verbreiten – bislang für Werbung noch nicht ausschöpfend erschlossen.

Bekommt nun jede Generation ihr Social Network? Der Boden, auf dem Social Networks wachsen, besteht nicht aus geschlossenen Gruppen und Echokammern. Er entsteht durch die Möglichkeit, neuen Menschen zu begegnen und Vertrauen zueinander zu erschaffen. Die nachhaltigsten, aber deshalb auch nicht kometenhaften Aufsteiger:innen sind Quora und Mastodon. Sie zeigen, dass Algorithmen auch Weisheit statt Hass fördern können und Dezentralität kein Traum aus der Hippie-Zeit des Internets bleiben muss.

Und dann ist da noch Twitter: Es war in der Entwicklung noch tiefer eingefroren als Facebook. Nun kann es durch den Ein- und möglichen Wieder-Ausstieg des vielleicht kontroversesten Chefs der Welt entweder zum All-in-Network mit Chat-, Bezahl- und Taxi-Funktion werden und damit zum westlichen WeChat – oder sich wieder in die Existenz am Rand der großen Netzwerke zurückziehen.

Nicht alle Prognosen treffen ein – damit habe ich mich selbstkritisch in diesem Text auseinandergesetzt. Du bist anderer Meinung? Lass es uns in den Kommentaren wissen!


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Kommentare aus der Community

Gerhard Märtterer am 21.12.2022 um 08:14 Uhr

Allen genannten Punkten stimme ich zu. Eines aber hat Ralf Scharnhorst außer acht gelassen: die Renaissance von Print – insbesondere in seiner hochpersonalisierten Variante des Programmatic Print. Denn das kommt ohne Cookies und ohne Consent aus und profitiert von den meisten der oben genannten Entwicklungen.

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