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Mindestlohn reicht nicht zum Leben: So groß ist die Einkommenslücke in Europa

Mindestlohn reicht nicht zum Leben: So groß ist die Einkommenslücke in Europa

Marié Detlefsen | 21.07.25

In fast keinem EU-Land reicht der Mindestlohn aus, um die Lebenshaltungskosten zu decken – auch in Deutschland nicht. Erfahre, wie groß die finanzielle Lücke für Arbeitnehmer:innen wirklich ist und warum selbst Vollzeitjobs oft nicht vor Armut schützen.

In vielen Ländern Europas ist es bittere Realität: Wer den gesetzlichen Mindestlohn verdient, kann davon kaum leben – geschweige denn eine Familie ernähren. Eine neue Analyse der Gisma University of Applied Sciences legt schonungslos offen, wie gravierend die Lücke zwischen Einkommen und Lebenshaltungskosten ist. Selbst in einem wirtschaftlich starken Land wie Deutschland fehlt am Monatsende oft ein erheblicher Betrag – und das trotz 40-Stunden-Woche.

In 26 von 27 untersuchten EU-Ländern reicht der Mindestlohn nicht aus

Die aktuelle Debatte um die geplante Anhebung des deutschen Mindestlohns auf 13,90 Euro ab 2026 hat die Problematik wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Doch ein Blick über die Landesgrenzen hinaus zeigt: Das Problem ist kein deutsches Einzelschicksal, sondern betrifft nahezu alle EU-Staaten. Die Studie vergleicht Netto-Mindestlöhne und Durchschnittseinkommen mit typischen Lebenshaltungs- und Mietkosten in städtischen Regionen. Das Ergebnis ist ernüchternd: In 26 von 27 untersuchten EU-Ländern reicht der Mindestlohn nicht aus, um grundlegende Ausgaben zu decken.

Alleinstehende Arbeitnehmer:innen, die auf den Mindestlohn angewiesen sind, müssen in Deutschland monatlich rund 350 Euro zusätzlich aufbringen, um über die Runden zu kommen. Für Familien mit zwei erwerbstätigen Elternteilen und zwei Kindern wird die finanzielle Lücke noch dramatischer – hier fehlen im Schnitt über 1.300 Euro pro Monat, selbst bei doppeltem Mindestlohn.

Mindestlohn – ein Armutslohn in vielen Ländern?

Lediglich in Belgien bleibt einer Einzelperson nach Abzug der Lebenshaltungskosten ein kleines finanzielles Polster – konkret 269,62 Euro. Damit ist das Land europaweit das Einzige, in dem der Mindestlohn tatsächlich für das tägliche Leben inklusive Miete ausreicht.

Ganz anders sieht es in Zypern aus: Dort beträgt der monatliche Netto-Mindestlohn 886 Euro, während die Lebenshaltungskosten für eine Einzelperson bei durchschnittlich 1.801,90 Euro liegen – ein Defizit von über 900 Euro. Ähnlich drastisch ist die Situation in Tschechien (minus 803,19 Euro) und Malta (minus 796,59 Euro).

EU-Vergleich von Mindestlohn (netto) mit Lebenshaltungskosten/Miete für eine Einzelperson (2025) © Gisma University of Applied Science
EU-Vergleich von Mindestlohn (netto) mit Lebenshaltungskosten/Miete für eine Einzelperson (mit einem Klick aufs Bild gelangst du zur größeren Ansicht), © Gisma University of Applied Science

Deutschland steht im Vergleich etwas besser da, liegt jedoch immer noch auf dem vierten Platz der negativen Skala. Die Differenz zwischen Einkommen und notwendigen Ausgaben beläuft sich hier auf minus 354,17 Euro – ein klares Signal dafür, dass auch in der Bundesrepublik Mindestlohnempfänger:innen unter enormem Druck stehen.

Schwächster Mindestlohn in Zypern

Noch düsterer wird das Bild, wenn man die Zahlen für Familien betrachtet. Eine vierköpfige Familie mit zwei Mindestlohnverdiener:innen steht nahezu überall in der EU vor einer finanziellen Zerreißprobe. Selbst in Ländern mit relativ hohen Mindestlöhnen wie Belgien (minus 768,25 Euro) oder den Niederlanden (minus 1.292,24 Euro) bleibt ein erhebliches Minus. Die größten Lücken klaffen in Zypern (minus 3.050,22 Euro), Malta (minus 2.560,62 Euro) und Tschechien (minus 2.496,04 Euro). Dennoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass einige Länder Familien auch finanziell unterstützen. In der Studie wurden Sozialleistungen wie Wohngeld, Kindergeld oder Ähnliches exkludiert.


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Durchschnittseinkommen bieten (ein wenig) Hoffnung

Etwas anders sieht das Bild aus, wenn man nicht den Mindestlohn, sondern das Durchschnittseinkommen als Maßstab nimmt. In den meisten EU-Staaten reicht dieses aus, um die Lebenshaltungskosten zu decken – mit teils erheblichen Überschüssen. Besonders positiv schneiden hier Dänemark (plus 1.882,04 Euro), Schweden (plus 1.728,26 Euro), die Niederlande (plus 1.378,36 Euro) und Deutschland (plus 1.338,83 Euro) ab. Doch auch in diesem Bereich zeigen sich Schattenseiten: In Ländern wie Portugal (minus 278,22 Euro), Malta (minus 250,59 Euro) oder der Slowakei (minus 201,48 Euro) bleibt selbst mit Durchschnittslohn nicht genug Geld übrig, um alle Ausgaben zu decken.

EU-Vergleich von Durchschnittseinkommen mit Lebenshaltungskosten/Miete für eine Einzelperson (2025), © Gisma University of Applied Science
EU-Vergleich von Durchschnittseinkommen mit Lebenshaltungskosten/Miete für eine Einzelperson (mit einem Klick aufs Bild gelangst du zur größeren Ansicht), © Gisma University of Applied Science

Für Familien mit durchschnittlichem Einkommen verbessert sich das Bild zwar leicht, doch in 16 EU-Staaten reicht selbst dann das Geld nicht. Wieder ist Malta traurige:r Spitzenreiter:in mit einem monatlichen Minus von 1.468,62 Euro für eine vierköpfige Familie. Auch Griechenland und Portugal liegen mit ähnlichen Defiziten weit hinten.

Mit Bildung und neuen Strategien gegen die Mindestlohnproblematik

Was bedeutet all das für die politischen Entscheidungsträger:innen? Klar ist: Der gesetzliche Mindestlohn, wie er heute in vielen europäischen Ländern existiert, erfüllt seine grundlegendste Aufgabe nicht – nämlich Menschen durch Erwerbsarbeit ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Die Zahlen zeigen, dass eine Neuausrichtung dringend notwendig ist. Mindestlöhne müssen nicht nur symbolisch angehoben, sondern realitätsnah an den tatsächlichen Lebenshaltungskosten bemessen werden.

Gleichzeitig offenbart die Analyse aber auch Perspektiven: Wer ein durchschnittliches Einkommen erreicht – etwa durch qualifizierte Ausbildung oder ein Studium –, hat in vielen Ländern Europas deutlich bessere Chancen auf finanzielle Stabilität. Besonders in Deutschland zeigt sich, dass das Verhältnis von Einkommen zu Lebenshaltungskosten für Durchschnittsverdiener:innen vergleichsweise günstig ist. Prof. Dr. Ramon O’Callaghan, Präsident der Gisma University of Applied Sciences, betont die Bedeutung von Bildung und Qualifikation als Schlüssel für bessere Einkommen:

Gerade für junge Menschen aus dem Ausland, die eine berufliche Zukunft in Europa planen, ist das eine zentrale Erkenntnis: Ein Studium in Deutschland kann der Einstieg in ein Umfeld sein, das wirtschaftliche Stabilität und reale Aufstiegsmöglichkeiten bietet. Deutschland liegt beim Verhältnis von Durchschnittseinkommen zu Lebenshaltungskosten unter den Top-Ländern Europas – das ist ein starkes Argument für qualifizierte Zuwanderung und international ausgebildete Fachkräfte.

Doch der Weg über Bildung allein kann das strukturelle Problem nicht lösen. Wer im Supermarkt, in der Pflege oder in der Logistik arbeitet – also Berufe, ohne die eine Gesellschaft nicht funktionieren kann –, verdient vielerorts nicht genug zum Leben. Diese Berufe sind systemrelevant, werden aber oft systematisch unterbezahlt. Es ist an der Zeit, dass Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gemeinsam neue Wege finden, um die Kluft zwischen Lohn und Lebensrealität zu schließen.


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Kommentare aus der Community

Andreas Gurk am 23.07.2025 um 14:11 Uhr

Wichtig ist das Medianeinkommen zu nehmen und nicht das Durchschnittseinkommen. Das ist durch wenige Großverdiener, die mehr als 100.000€ pro Jahr verdienen, stark verzerrt. Der Median liegt bei ca. 3000 netto in DE je nach Steuerklasse.

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