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Chaos bei Twitter: Alles hinter die Paywall?
© Chris J. Davis via Canva

Chaos bei Twitter: Alles hinter die Paywall?

Niklas Lewanczik | 08.11.22

Elon Musk könnte Twitter komplett hinter eine Paywall ziehen, während er von einem Allzeithoch der User-Zahlen spricht. Zugleich droht die Plattform aber unter den Umwälzungen zu zerbrechen – und erhält sogar Anweisungen von der UN.

Lange Zeit sah es so aus, als würde sich Elon Musk von seiner verabredeten Übernahme Twitters abwenden wollen. Als er Anfang August sogar gegen Twitter klagte, nachdem das Unternehmen juristisch den Verkauf hatte durchsetzen wollen, zeigte sich bereits, dass die Zusammenkunft von Musk und Twitter von einer unrühmlichen – wenn nicht gar unprofessionellen – Vorgeschichte überschattet wurde. Jetzt, da Musk Twitter für rund 44 Milliarden US-Dollar gekauft und sich zum alleinigen Direktor sowie CEO gemacht hat, scheint die populäre Social-Media-Plattform im Chaos zu versinken.

Dabei hatte Elon Musk den Nutzer:innen im Vorfeld viel versprochen und anlässlich der Übernahme gar getwittert: „The bird is freed“. Dass Twitter jetzt gänzlich kostenpflichtig werden könnte, und nicht nur für die Verifizierung und andere Exklusiv-Features monatlich eine Gebühr gezahlt werden muss, passt da eigentlich nicht ins Bild. Während die Monetarisierung dem Unternehmen Sorgen bereitet, weil auch zahlreiche Werbekund:innen abspringen, droht auch die Posting-Kultur zu verrohen. Davor warnt sogar die UN.

Wird Twitter hinter einer Paywall landen?

Der Tech-Experte und auf Social Media spezialisierte Journalist Casey Newton berichtet bei Platformer, dass Elon Musk mit seinem Team zumindest darüber diskutiert, Twitter komplett hinter eine Paywall zu verlagern. Dann würde die Plattform als einzige unter den ganz großen Social Media grundsätzlich zahlungspflichtig sein. Ein konkreter Plan steht laut Newton jedoch noch nicht bereit. Auch hat Twitter sich nicht offiziell zu dieser Entwicklung geäußert.

Noch kurz nach seiner Übernahme von Twitter hatte Elon Musk erklärt, er habe das Unternehmen nicht übernommen, um damit mehr Geld zu verdienen.

I didn’t do it to make more money. I did it to try to help humanity, whom I love. And I do so with humility, recognizing that failure in pursuing this goal, despite our best efforts, is a very real possibility.

Allerdings hat der neue CEO bereits weitreichende Veränderungen für Twitter anberaumt – die die Monetarisierung der Plattform sichern sollen. Künftig können alle User eine Verifizierung samt blauem Haken erhalten, wenn sie dafür und für Twitter Blue 7,99 US-Dollar monatlich zahlen. Es ist jedoch nicht klar, wie viele User wirklich auf Twitter Blue – das bisher weiterhin nur in vier Märkten weltweit zur Verfügung steht – zurückkommen werden.

Laut Newtons Artikel könnte Twitter gar finanziell weitere Probleme erhalten, wenn sich das Unternehmen zu sehr auf dieses Bezahlmodell verlasse. Auch deshalb könnte eine umfassende Paywall im Gespräch sein. Denn Musk hatte zahlenden Twitter Blue-Nutzer:innen weniger Ads in der Timeline versprochen, wörtlich sogar nur halb so viele Ads. Berechnungen von Finanzexpert:innen zufolge könnte das aber einen Verlust von knapp sechs Milliarden US-Dollar an Werbeeinnahmen mit sich bringen.

Darüber hinaus verliert der Kurznachrichtendienst ohnehin Werbekund:innen. General Motors, Mondelez, Pfizer und VW haben bereits ihre Ads ausgesetzt, viele weitere dürften folgen. Die Marken sehen ebenso wie viele Creator ein großes Problem darin, dass Twitter durch die Verifizierung für alle sowie die Pläne zur Erweichung der Richtlinien gegen Hate Speech und Fake News zu einer Plattform werden könnte, auf der die Differenzierung von seriösen und unseriösen Inhalten den Bestrebungen zum Geldverdienen nachgelagert ist. Als problematisch gilt auch das Verhalten des sogenannten Chief Twits Musk, der selbst über 115 Millionen Follower auf Twitter hat. Er äußerst sich mehrmals täglich selbst auf der Plattform, hat kürzlich unentschlossene Wähler:innen im Rahmen der Midterms in den USA sogar aktiv dazu aufgerufen, die Republikanische Partei zu wählen, und zeigt insgesamt wenig diplomatisches Verhalten.

Wird Twitter „zerstört“? Personal muss gehen, User halten Abstand – doch Musk spricht über das Allzeithoch der User-Zahlen

Nils Dampz titelt in seinem Kommentar zur Entwicklung auf Twitter aus dem ARD-Studio Los Angeles für die Tagesschau „Sieben Tage der Zerstörung“. Musk hat die populäre Plattform und das Social-Unternehmen dahinter gravierend verändert. Er hat einerseits große Pläne; denn der vor Jahren eingestellte Dienst Vine, in dem manche eine Vorgänger:inplattform von TikTok sehen, soll wieder aktiviert werden. Außerdem soll der Edit Button für alle User:innen zur Verfügung gestellt werden.

Zugleich aber gab es am vergangenen Freitag (4. November 2022) Massenentlassungen bei Twitter. Diese sind vermutlich nicht rechtsgültig, weshalb sich das Unternehmen bereits einer Sammelklage des geschassten Personals gegenübersieht. Twitter hat darüber hinaus viele wichtige Fachkräfte verloren, die nicht nur bei der Konkurrenz anheuern könnten, sondern auch ihren Wert als Corporate Influencer und jahrelang ausgebildete Fachkräfte künftig nicht mehr für die Social-Plattform einsetzen werden. Auch dieses Kapital geht Twitter verloren. Und nicht nur das Personal verlässt den Kurznachrichtendienst.

Schon jetzt haben bereits Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen User die Plattform verlassen, darunter namhafte wie Drehbuchautorin Shonda Rhimes. Zudem wurden Hunderttausende Accounts gesperrt. Viele Creator fürchten um ihre Grundlagen auf Twitter. Wie Casey Newton für Platformer berichtet, soll Twitters Newsletter-Plattform Revue, die erst 2021 gekauft wurde, zum Ende des Jahres den Dienst einstellen. Demnach könnten Creator ihre Newsletter nicht mehr auf der Social-Plattform integrieren. Außerdem plant Twitter offenbar, das erst wenige Monate alte Feature Twitter Notes einzustellen. Diese Funktion erlaubt artikellange Tweets und sprengte quasi das Zeichenlimit auf der Plattform. Das Longform-Content-Format sollte noch mehr Creator für die Plattform begeistern, wird dazu jedoch womöglich keine Chance mehr erhalten.

Viele Creator wechseln bereits zum dezentralisierten Microblogging-Dienst Mastodon (wie das funktioniert, erfährst du in unserem Artikel zum Thema).


Von Twitter zu Mastodon: So gelingt der Wechsel

Welcome to Mastodon
Welcome to Mastodon, © Mastodon


Doch obwohl Twitter ein Exodus zu drohen scheint, twittert Musk von einem Allzeithoch der Nutzer:innenzahlen.

Tatsächlich sind die Zahlen der Downloads und Neuanmeldungen auf Twitter seit der Übernahme von Musk deutlich gewachsen. Es kommen also neue User hinzu, während viele langjährige der Plattform den Rücken kehren. Welche Art von Communities sich künftig dort zusammenfinden, bleibt abzuwarten. Zuletzt hatte ein interner Bericht Twitters mit dem aussagekräftigen Titel „Where did the Tweeters Go?“ darauf hingewiesen, dass viele zuvor aktive Creator und deren Communities weniger Engagement zeigen.

The big communities are now in decline,

heißt es darin. 

Kritischer Umgang mit Menschen: Die UN weist auf Menschenrechte hin

Wie der Umgang der User untereinander auf Twitter sich verändern wird und darf, wird auch damit zusammenhängen, wie Musk und sein verbliebenes Team die Richtlinien auslegen oder neu gestalten. Kürzlich kündigte der CEO bereits an, dass Accounts, die Nachahmungen von Personen oder Entitäten durchführen, ohne diese klar als „Parodie“ zu kennzeichnen, dauerhaft gesperrt werden. Außerdem sollen Namensänderungen bei Accounts zum temporären Verlust des blauen Hakens führen.

Da Twitter eine Kommunikationsplattform am Puls der Zeit ist, aber jetzt ohne Team für Menschenrechte dasteht – weil dieses ebenfalls entlassen wurde –, meldet sich jetzt sogar die UN bei Elon Musk. Der UN High Commissioner für Menschenrechte, Volker Türk, hat via Twitter auf einen offenen Brief an Musk hingewiesen. Darin schreibt er:

Twitter is part of a global revolution that has transformed how we communicate. But I write with concern and apprehension about our digital public square and Twitter’s role in it. Like all companies, Twitter needs to understand the harms associated with its platform and take steps to address them. Respect for our shared human rights should set the guardrails for the platform’s use and evolution. In short, I urge you to ensure human rights are central to the management of Twitter under your leadership

Was kommt als Nächstes für Twitter? Das ist angesichts des Chaos auf der Plattform und im Unternehmen kaum abzusehen. Dass Konkurrenzplattformen wie Mastodon, TikTok, Instagram, Reddit, Tumblr und Co. davon profitieren könnten, liegt jedoch auf der Hand.

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