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Wie sollen Überstunden den Wohlstand sichern? Kritik an Vorschlag für 42-Stunden-Woche

Wie sollen Überstunden den Wohlstand sichern? Kritik an Vorschlag für 42-Stunden-Woche

Selina Beck | 28.06.22

Wegen der wirtschaftlichen Lage fordert die Industrie die 42-Stunden-Woche. Dies passt aber nicht mit den Arbeitsmodellen junger Menschen und der aktuellen Überstundenpraxis zusammen.

Coronapandemie, Inflation, Fachkräftemangel: Aufgrund der angespannten wirtschaftlichen Situation hat Finanzminister Christian Lindner vor Kurzem mehr Überstunden gefordert. Aus der Industrie kommen ähnliche Töne: Verschiedene Wirtschaftsvertreter:innen plädieren für eine 42-Stunden-Woche. Diese Vorschläge werden allerdings nicht nur im Netz heftig kritisiert.

Überstunden statt Kriegssoli

Wegen der problematischen ökonomischen Situation kommen aus der Politik und Wirtschaft verschiedene Lösungsvorschläge. So schlug Grünen-Politiker Danyal Bayaz einen Kriegssoli, also massive Steuererhöhungen, vor. Lindner (FDP) sprach sich dagegen aus und forderte stattdessen mehr Überstunden. Auch die Rente mit 70 und die 42-Stunden-Woche, die etwa BDI-Präsident Siegfried Russwurm forderte, wurden ins Spiel gebracht. Russwurm sagte der Funke-Mediengruppe dazu:

Ich habe persönlich große Sympathie für eine optionale Erhöhung der Wochenarbeitszeit – natürlich bei vollem Lohnausgleich. Eine 42-Stunden-Woche wäre sicherlich leichter umzusetzen als eine allgemeine Einführung der Rente mit 70.

Viele unbezahlte Überstunden sind Alltag

Die Vorschläge, dass Arbeitnehmer:innen in Deutschland mehr Stunden in der Woche arbeiten sollen, führten sofort zu großer Kritik. In Deutschland werden nämlich bereits über 1,7 Milliarden Überstunden im Jahr gemacht – fast die Hälfte davon sogar unbezahlt.

Zudem sind in anderen Ländern gerade gegenteilige Entwicklungen erkennbar. In Neuseeland, Belgien und Island gibt es mitunter die Vier-Tage-Woche, in Frankreich gibt es die 35-Stunden-Woche und auch in Schweden testen einige Städte den Sechs-Stunden-Tag.

Auch verschiedene Firmen wie eine Digitalagentur aus Köln testeten die Vier-Tage-Woche mit großem Erfolg. Die Beschäftigten arbeiteten 20 Prozent produktiver und waren glücklicher. Ähnliche Experimente bestätigen dieses Ergebnis.

© MDR, Quelle: Eurostat

Gesundheitliche Risiken

Mehr als acht Arbeitsstunden pro Tag können sogar gefährlich sein, da dadurch unter anderem die Unfallgefahr steigt, sagt Professor Dirk Windemuth vom Institut für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung im Interview mit dem MDR:

Wer länger als acht Stunden arbeitet, wird mehr Unfälle verursachen und in Unfälle eher verstrickt. Nach zehn Stunden Arbeit steigt das Risiko noch einmal entscheidend.

Bei einer Vier-Tage-Woche mit weiterhin acht Arbeitsstunden würden die Beschäftigten effektiver arbeiten und auch die Work-Life-Balance sei dadurch besser.

Jüngere Generation will mehr Freizeit

Die geburtenstarken Jahrgänge gehen schrittweise in Rente und damit ändert sich auch die Arbeitsmentalität. Denn die jüngere Generation will überwiegend keine 40-Stunden-Woche mehr, da sie sich mehr Zeit für die Familie, die Pflege von Angehörigen und ehrenamtliches Engagement wünscht. So reicht mehr Gehalt nicht mehr zur Arbeitsmotivation aus, vor allem da auch die Rente an Sicherheit verloren hat.

Diese Veränderung zeigt sich auch an der Diskussion um das bedingungslose Grundeinkommen. Der Philosoph Richard David Precht prognostizierte im Interview im Deutschlandfunk ebenfalls eine veränderte Arbeitskultur:

Ich glaube, dass wir über kurz oder lang tatsächlich in eine Gesellschaft kommen – ohne dass ich jetzt Jahreszahlen nennen möchte –, in der wahrscheinlich die Hälfte der Bevölkerung irgendwann nicht mehr arbeitet beziehungsweise, vorsichtiger ausgedrückt, keiner geregelten Lohnarbeit von Nine to Five nachgeht.

Kritik aus der Opposition

Zurückweisung gab es auch von der Opposition. Die Linke weist darauf hin, dass die Pandemie die soziale Ungleichheit verstärkt hat. Jan Korte, Parlamentarischer Geschäftsführer der Linken-Fraktion im Bundestag, sagte zu Lindners Vorschlag:

Deutsche Aktienunternehmen zahlen dieses Jahr zusammen 70 Milliarden Euro Dividenden aus, so viel wie nie zuvor. Und Christian Lindner fordert mehr Überstunden, um die Wirtschaft zu stabilisieren.

Reaktionen aus dem Netz

Im Netz ging der Überstundenvorschlag viral – verbunden mit heftiger Kritik:

Die Tweets zeigen: Eine aufgezwungene 42-Stunden-Woche wäre der Arbeitsmotivation womöglich alles andere als zuträglich und damit kein:e Garant:in für mehr Produktivität.

Der Finanzminister verteidigte seinen Vorschlag allerdings in diesem Tweet:

Ähnliche Konzepte scheiterten bereits

Mehr Arbeitsstunden sind in Deutschland kein neuer Vorschlag. In einzelnen Bundesländern wie Bayern und Nordrhein-Westfalen gab es bereits ähnliche Vorstöße, die jedoch immer wieder gekippt wurden. So gab es 2004 in Bayern eine 42-Stunden-Woche für Beamt:innen. Nach zahlreichen Protesten wurde diese jedoch wieder zurückgenommen. Eine optionale 44-Stunden-Woche für Beamt:innen konnte sich auch in Nordrhein-Westfalen nicht durchsetzen.

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