Digitalisierung
„Wir können doch nicht unsere Markenfarbe ändern“ – doch! Durch Barrierefreiheit mehr Wirkung erzielen

„Wir können doch nicht unsere Markenfarbe ändern“ – doch! Durch Barrierefreiheit mehr Wirkung erzielen

Marié Detlefsen | 21.08.25

Barrierefreiheit ist ab sofort Pflicht – und bietet zugleich enormes kreatives Potenzial. Creative Director Till Oyen erklärt im Interview, warum das neue Gesetz keine Hürde, sondern ein:e echter Innovationstreiber:in für Marken sein kann.

Barrierefreiheit ist längst kein Randthema mehr, sondern rückt mit dem Inkrafttreten des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes endgültig ins Zentrum unternehmerischer Verantwortung. Für viele Marken klingt das zunächst nach zusätzlichem Aufwand, komplizierten Vorgaben und kreativen Einschränkungen. Till Oyen, Creative Director bei Radikant, sieht darin jedoch vor allem eine große Chance: Barrierefreiheit als Hebel für mutigere Gestaltung, klareres Branding und eine Kommunikation, die wirklich alle erreicht. Erfahre, wie du Barrierefreiheit einfach und effizient in deinem Unternehmen umsetzt.

Was ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz?

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) ist ein deutsches Gesetz, das am 28. Juni 2025 in Kraft getreten ist. Es setzt eine EU-Richtlinie um und verpflichtet Unternehmen, digitale Produkte und Dienstleistungen so zu gestalten, dass sie für alle Menschen zugänglich sind – unabhängig von körperlichen oder kognitiven Einschränkungen. Dazu gehören etwa Websites, Online-Shops, Apps, E-Books, Bankdienstleistungen oder auch der elektronische Handel, wobei es Ausnahmen gibt, da die Regeln nur unter bestimmten Bedingungen gelten.

Für Verbraucher:innen bedeutet das mehr Teilhabe und weniger Hürden im digitalen Alltag. Für Unternehmen wiederum wird Barrierefreiheit damit nicht länger zur freiwilligen Zusatzleistung, sondern zur Pflicht und gleichzeitig zur strategischen Chance, ihre Markenkommunikation inklusiver, zukunftsfähiger und kund:innenfreundlicher zu gestalten.

Unternehmen fehlt häufig das nötige interne Know-how im Bereich Barrierefreiheit

Doch die bloße Einhaltung dieser Richtlinien ist nur der Anfang. Barrierefreiheit im digitalen Raum bedeutet weit mehr als nur die Einhaltung technischer Mindestanforderungen. Es geht darum, inklusive Erlebnisse zu schaffen – digitale Produkte, die nicht nur zugänglich, sondern intuitiv, funktional und für alle Nutzer:innen verständlich sind. Auch in der Praxis verstehen immer mehr Unternehmen, dass digitale Barrierefreiheit kein Nischenthema mehr ist. Laut einer aktuellen Umfrage von Applause unter über 1.500 Fachleuten aus den Bereichen Design, Entwicklung und Qualitätssicherung sehen 83,9 Prozent die Barrierefreiheit im Jahr 2025 als zentrale oder zumindest wichtige Priorität für ihr Unternehmen – ein Anstieg um vier Prozent gegenüber dem Vorjahr.

83,9 Prozent sehen die Barrierefreiheit derzeit als wichtige Priorität für ihr Unternehmen (mit einem Klick aufs Bild gelangst du zur größeren Ansicht), © Applause
83,9 Prozent sehen die Barrierefreiheit derzeit als wichtige Priorität für ihr Unternehmen (mit einem Klick aufs Bild gelangst du zur größeren Ansicht), © Applause

Dennoch gibt es viele Lücken und zwei Drittel der Unternehmen verfügen nicht über ausreichend internes Know-how oder Personal, um kontinuierlich auf Barrierefreiheit zu testen. Fast ein Viertel nutzt überhaupt keine Metriken, um die Qualität der digitalen Barrierefreiheit zu überwachen. Im Interview mit Till Oyen sprechen wir darüber, wie gutes Design und Inklusion Hand in Hand gehen und auf welche Weise Unternehmen mit kleinen Veränderungen große Wirkung erzielen – und was jetzt unbedingt in jedes Brand Manual gehört.

Das Interview

OnlineMarketing.de: Till, du nennst das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz eine „erzwungene Veränderung mit schönem Nebeneffekt“. Was genau meinst du damit – und worin liegt für dich die eigentliche Chance für Marken?

Der Vorteil an gesetzlichen Deadlines ist, dass man endlich auch mal die Dinge anpacken kann, die ohnehin schon immer im Plan waren – aber in der Priorität immer das Nachsehen hatten. Unternehmen werden hier zu ihrem Glück gezwungen – aber genau das bietet noch weitere Möglichkeiten für sie, sich besser aufzustellen. Die eigentliche Chance liegt darin, dass Markenverantwortliche hier endlich mal das Recht auf ihrer Seite haben, wenn sie anmerken, dass in den visuellen Auftritt investiert werden muss.

Jetzt gibt es einen konkreten Anlass, den Markenauftritt nicht nur barrierefrei, sondern auch markanter, klarer und letztlich wirkungsvoller zu gestalten.

Viele Unternehmen empfinden Barrierefreiheit im Design erst einmal als Einschränkung. Wie gelingt es, diesen Perspektivwechsel hin zu mehr kreativer Freiheit zu vermitteln?

Herausforderungen tauchen auf, wenn Unternehmen konkret anfangen: „Wir können doch nicht unsere Markenfarbe verändern“ oder  „Dann sehen alle Unternehmen ja gleich aus!“ sind typische Bedenken. Der Schlüssel zum Perspektivwechsel liegt darin, zu verstehen, dass Barrierefreiheit nicht bedeutet, alles in Schwarz-Weiß zu gestalten oder auf visuelle Differenzierung zu verzichten. Ich versuche in diesen Situationen zu vermitteln, dass Einschränkungen tatsächlich Kreativität fördern können. Wenn wir gezwungen sind, innerhalb bestimmter Parameter zu arbeiten, müssen wir innovativer denken. Das führt oft zu klareren, stärkeren und letztlich besseren Designlösungen. Außerdem hilft es, den Fokus auf die Nutzer:innenfreundlichkeit zu legen. Davon profitieren alle. Ein Design, das für Menschen mit Einschränkungen zugänglich ist, ist in der Regel auch für alle anderen besser nutzbar. Mittelgraue Schrift auf Weiß war auch für Menschen mit voller Sehkraft keine Lesefreude – warum also daran festhalten?

Wo überschneiden sich gutes Branding und Barrierefreiheit ganz konkret – und warum ist das keine zufällige Schnittmenge?

Die Überschneidung zwischen gutem Branding und Barrierefreiheit hat einen gemeinsamen Kern. Ganz konkret ergänzen sie sich in mehreren Bereichen: erstens bei der Lesbarkeit und Erkennbarkeit. Eine Marke will erkannt werden, eine barrierefreie Gestaltung will gelesen werden können. Beides erfordert klare Kontraste, gut lesbare Typografie und eindeutige visuelle Hierarchien. Zweitens bei der Konsistenz. Gutes Branding lebt von konsistenter Anwendung über alle Touchpoints hinweg. Barrierefreiheit profitiert ebenfalls von Konsistenz, weil sie für Nutzer:innen die Interaktionen vorhersehbar macht und damit die Reise durch die Touchpoints erleichtert. Drittens bei der Nutzer:innenorientierung. Eine starke Marke stellt die Bedürfnisse ihrer Zielgruppen in den Mittelpunkt – genau wie barrierefreies Design, das die Bedürfnisse aller potenziellen Nutzer:innen berücksichtigt.


BFSG 2025 –

in 5 Schritten zur digitalen Barrierefreiheit für deine Videos

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© Brooke Cagle – Unsplash


Und was gehört deiner Meinung nach jetzt zwingend in einen Styleguide Manual, wenn er barrierefrei und zukunftsfähig sein soll?

Ein zukunftsfähiges, barrierefreies Brand-Design sollte unbedingt folgende Punkte auf der Agenda haben:

  1. Klare Kontraste: Nicht nur für Text, sondern auch für Buttons, Links und Infografiken. Am besten legt man gleich konkrete Werte fest, zum Beispiel 4,5:1 nach WCAG-AA-Standard, und zeigt direkt mit Beispielen, was gut ist und was gar nicht geht. 
  2. Typografie, die Lesen einfach macht: also nicht nur Schriftart und -größen, sondern auch Zeilenabstand, Ausrichtung und eine klare Hierarchie. Und bitte nicht vergessen, dass alles auch auf dem Handy noch gut lesbar sein muss.
  3. Alternative Farbschemata: Was, wenn die Lieblingsmarkenfarbe nicht genug Kontrast hat? Dann braucht es einen Plan B, also Farbalternativen, die barrierefrei sind und trotzdem zur Marke passen.
  4. Klare Regeln für digitale Zugänglichkeit – wie müssen Buttons aussehen, damit sie wirklich klickbar sind? Wie schreibt man Alt-Texte für Bilder, und wie baut man Formulare, damit sie jede:n erreichen?
  5. Eine verständliche Sprache: Auch Wörter können Barrieren schaffen. Hier gilt es klar, einfach und ohne Fachjargon zu kommunizieren, dass es wirklich jede:r versteht.
  6. Praxisbeispiele, bitte! Wie sieht das Ganze in echt aus? Ob Print, digital oder vor Ort: Anwendungsbeispiele helfen, dass aus Regeln echte Umsetzung wird.

Welche typischen Fehler beobachtest du bei Unternehmen, wenn sie sich zum ersten Mal mit digitaler Barrierefreiheit auseinandersetzen?

Der häufigste Fehler ist sicherlich, das Thema rein als technische oder rechtliche Compliance-Aufgabe zu betrachten. Unternehmen beauftragen dann oft eine externe Agentur, „die Website barrierefrei zu machen“, ohne zu verstehen, dass es sich um einen kontinuierlichen Prozess handelt, der in die gesamte Organisation integriert werden muss. Ein zweiter klassischer Fehler ist die Annahme, dass Barrierefreiheit nur für eine kleine Gruppe relevant sei. Tatsächlich profitieren alle Nutzer:innen von barrierefreien Designs – sei es durch bessere Lesbarkeit, klarere Navigation oder intuitivere Bedienung. Viele Unternehmen unterschätzen auch den Umfang der Aufgabe. Sie denken, es ginge nur um ein paar Farbkontraste und Alt-Texte für Bilder, ohne die tiefgreifenden Implikationen für Content-Strategie, Informationsarchitektur und User Experience zu berücksichtigen.

Wie kann ein Unternehmen den Spagat schaffen zwischen technischen Anforderungen, ästhetischem Anspruch und echter Nutzer:innenfreundlichkeit? Gibt es Tools, Prozesse oder konkrete Methoden dafür?

Dieser Spagat ist tatsächlich eine der größten Herausforderungen, aber er ist definitiv machbar. Ein bewährter Ansatz ist zum Beispiel, die Barrierefreiheit von Anfang an mitzudenken und nicht nachträglich aufzusetzen. Wenn Zugänglichkeit Teil des initialen Designprozesses ist, entstehen weniger Konflikte zwischen Ästhetik und Funktionalität. Weiter hilft es, interdisziplinäre Teams zu bilden. Wenn Designer, Entwickler:innen, Content-Ersteller:innen und idealerweise auch Menschen mit verschiedenen Fähigkeiten zusammenarbeiten, entstehen Lösungen, die sowohl technisch korrekt als auch ästhetisch ansprechend sind.

Was Tools betrifft, gibt es einige hilfreiche Ressourcen:

  • Kontrastprüfungs-Tools wie den WCAG-Rechner oder für Print den Kontrastrechner des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands (leserlich.info/farben)
  • Screenreader-Tests, um die Erfahrung von sehbehinderten Nutzer:innen nachzuvollziehen
  • Automatisierte Prüftools wie WAVE oder axe, die jedoch immer durch manuelle Tests ergänzt werden sollten


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Wie lässt sich Barrierefreiheit im Design umsetzen, ohne die Markenidentität zu verwässern oder visuell alles „gleich“ aussehen zu lassen?

Das ist eine Kernfrage, die viele Markenverantwortliche umtreibt! Die gute Nachricht: Barrierefreiheit und eine starke Markenidentität schließen sich keineswegs aus – im Gegenteil, sie können sich gegenseitig verstärken. Konkrete Strategien dafür sind:

  1. Die Markenfarben strategisch einsetzen: Wenn eine Primärfarbe nicht kontrastreich genug ist, kann sie trotzdem für große Flächen, Akzente oder nicht informationstragende Elemente verwendet werden. Für Text und interaktive Elemente entwickelt man dann komplementäre, kontrastreichere Farben, die zur Markenpalette passen.
  2. Mit Typografie arbeiten: Eine charakteristische Schriftart kann ein starkes Markenelement sein, auch wenn sie mit höheren Kontrasten eingesetzt wird. Hier kann man durch Schriftschnitt, Größe und Komposition Differenzierung schaffen.
  3. Visuelle Elemente jenseits von Farbe nutzen: Formen, Muster, Illustrationsstile, Bildsprache – all diese Elemente können eine Marke unverwechselbar machen, ohne Barrierefreiheit zu beeinträchtigen.

Barrierefreiheit ist Chefsache – aber wie bringe ich das Thema in einem Unternehmen an die richtige Stelle? Hast du da eine Empfehlung für den internen „Verkaufsweg“?

Als Erstes solltest du die richtigen Argumente für die jeweilige Zielgruppe finden. Für die Geschäftsführung sind oft wirtschaftliche Argumente überzeugend: die Bußgelder bei Nichteinhaltung, der erweiterte Kund:innenkreis durch Barrierefreiheit oder der Wettbewerbsvorteil durch positive Markenwahrnehmung. Für Marketing-Verantwortliche kann der Aspekt der Markenentwicklung und -modernisierung interessant sein, für IT Teams vielleicht die technische Optimierung und bessere Performance.

Als Nächstes solltest du dir Verbündete suchen. Identifiziere Personen im Unternehmen, die bereits für das Thema sensibilisiert sind oder davon profitieren könnten. Das können Kolleg:innen aus dem Diversity-Bereich sein, aber auch Produktmanager, die ihre Zielgruppe erweitern möchten. Dennoch solltest du mit kleinen, sichtbaren Erfolgen starten. Statt eine komplette Umstellung zu fordern, kann man mit einem Pilotprojekt beginnen, das schnell Ergebnisse zeigt – etwa die Optimierung einer wichtigen Landingpage oder eines häufig genutzten Formulars. Solange die Initiative danach nicht versandet, denn die Vorgaben gelten weiterhin. 

Wenn du zehn Jahre nach vorn springst: Wie sieht eine digital barrierefreie Markenwelt dann aus?

In zehn Jahren wird Barrierefreiheit hoffentlich so selbstverständlich sein wie heute Responsive Design – etwas, das man nicht mehr extra erwähnen muss, weil es einfach zum Standard gehört. Ästhetisch erwarte ich eine Rückkehr zu klareren, kontrastreicheren Designs. Die subtilen, pastelligen Farbpaletten und die zarten Typografien, die in den letzten Jahren populär waren, werden einer kraftvolleren, direkteren visuellen Sprache weichen. Das wird nicht nur inklusiver sein, sondern auch ausdrucksstärker.

Ich glaube auch, dass wir eine größere Vielfalt an Ausdrucksformen sehen werden. Wenn alle Marken barrierefrei gestalten müssen, werden sie nach neuen Wegen suchen, sich zu differenzieren – vielleicht durch innovative Nutzung von Bewegung, Sound, haptischen Elementen, überraschende Geschichten oder neuen Technologien, die wir heute noch gar nicht kennen. Letztlich hoffe ich auf eine Markenwelt, in der Inklusion nicht mehr als Sonderleistung gilt, sondern als selbstverständlicher Ausdruck von Respekt gegenüber allen Menschen – eine Welt, in der gutes Design automatisch auch zugängliches Design bedeutet.


Wir bedanken uns recht herzlich für das schriftliche Interview mit Till Oyen sowie für die spannenden Insights aus seiner Perspektive.


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