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Büroalltag
Präsentismus: Wieso so viele Mitarbeiter krank zur Arbeit kommen

Präsentismus: Wieso so viele Mitarbeiter krank zur Arbeit kommen

Michelle Winner | 08.06.20

Der asiatische Trend ist auch in Deutschland beliebt - trotz sinkender Produktivität der Betroffenen. Schuld ist häufig die Angst vor dem Jobverlust und als faul zu gelten.

Ein Trend aus Asien breitet sich auch hierzulande immer weiter aus – in diesem Fall ein negativer. Denn immer mehr Arbeitnehmer gehen trotz Krankheit zur Arbeit. Was schon vor Corona ein Risiko für das ganze Team war, ist gerade jetzt besonders prekär. Schuld an dem Trend ist das veraltete Mindset, dass sich Produktivität an Arbeitszeit misst. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Wer krank arbeitet, ist weniger produktiv und riskiert, dass weitere Team-Mitglieder ausfallen. Doch wieso setzt sich der Trend trotzdem durch und welche weiteren Folgen gibt es?

Wenige Fehltage und hoher Präsentismus

Die Arbeitsmoral, die in einigen ostasiatischen Ländern herrscht, wird zum Teil hochgelobt oder gar glorifiziert. Die Mitarbeiter zeichnen sich durch hohe Produktivität, wenige Pausen und ein niedriges Schlafbedürfnis aus. Aber ist dies wirklich eine Auszeichnung? Für einige Arbeitgeber hier in Deutschland schon. Der sogenannte Präsentismus, also das Erscheinen am Arbeitsplatz trotz Krankheit, erfreut sich immer größerer Beliebtheit. Doch nicht nur Arbeitgeber sehen ihn bei ihren Angestellten gern – auch die Mitarbeiter selbst rühmen sich teilweise damit. Eine Umfrage von AIA Vitality Healthiest Workplace zeigt erschreckende Zahlen für den ostasiatischen Bereich.

So schlafen 56 Prozent der Befragten aus Hongkong, Malaysia und Singapur im Schnitt weniger als sieben Stunden pro Nacht. In Japan geht der Trend so weit, dass Mitarbeiter an ihren Arbeitsplätzen schlafen. Und diese Nickerchen werden tatsächlich gelobt – sie seien ein Zeichen für Fleiß und Anstrengung. Krankheits- und Erschöpfungssymptome werden nicht ernst genommen. Dabei zeigt die Umfrage, dass zwölf Prozent der Befragten bereits deutlich mit Anzeichen für Depressionen und Burnout zu kämpfen haben. Zudem liegt die Mobbing-Rate in ostasiatischen Unternehmen bei fast 20 Prozent.

Präsentismus kostet bis zu 70 Arbeitstage

Wer also krank zur Arbeit erscheint, arbeitet weniger produktiv. Also verliert der Mitarbeiter nicht nur Arbeitszeit durch seine regulären Krankmeldungen, sondern auch durch den Präsentismus. Die folgende Grafik zeigt genau das: An knapp 71 Arbeitstagen wird nicht produktiv gearbeitet, weil die Angestellten aufgrund ihres Zustands gar nicht dazu fähig sind. Verglichen wurden die Werte mit Daten aus Großbritannien und Australien.

© AIA Vitality

Das größte Problem dabei ist, dass Unternehmen sowie die Regierungen in den befragten Ländern kaum Sorge um das mentale Befinden der Arbeiter zeigen. Für Personen mit psychischen Erkrankungen gibt es kaum Hilfsangebote. Unter anderem liegt der Kern des Problems in der Erziehung vieler Asiaten. Sie lernen wenig Emotionen in der Öffentlichkeit zu zeigen und ihre Gefühle für sich zu behalten. Im Gegensatz zu den westlichen Teilen Europas werden sich die Erkrankungen seltener eingestanden und dadurch auch kaum behandelt.

Wie macht sich der Trend in Deutschland bemerkbar?

Konkrete Zahlen für Deutschland bietet die Umfrage von AIA Vitality nicht und es fehlen generell aktuelle Studien zu dem Thema hierzulande. Eine Untersuchung von Ende 2018 zeigt jedoch, dass 83 Prozent der befragten Arbeitnehmer auch krank zur Arbeit erscheinen. Hierbei wird sich nicht nur auf ansteckende Krankheiten bezogen, sondern auch psychische Leiden und physische Schmerzen wie in Kopf, Rücken und Co. Trauriger Spitzenreiter ist Bayern, wo knapp 90 Prozent der Mitarbeiter krank arbeiten. Insgesamt kommen so zu den im Schnitt 18,5 Krankheitstagen in Deutschland noch bis 12,1 Arbeitstage der Kategorie Präsentismus hinzu. Heißt, mit fehlender Produktivität.

Die Angst davor, als faul zu gelten

Doch wieso wird Präsentismus so stark praktiziert, obwohl er doch schädlich für Mitarbeiter und Unternehmen ist? Tatsächlich sind oft die Erwartungen des Arbeitgebers Schuld. In einigen Unternehmen werden Krankmeldungen nicht gerne gesehen – und den Angestellten dies auch deutlich gemacht. Dadurch fürchten viele Arbeitnehmer, dass das Kranksein zum Jobverlust führt. Besonders stark lässt sich Präsentismus in Deutschland zu Zeiten beobachten, in denen die Wirtschaft kriselt. So war es auch kein Wunder, dass sich gerade zum Beginn der Coronakrise viele Mitarbeiter darüber beschwert haben, dass sich Kollegen trotz möglicher Symptome zur Arbeit geschleppt haben.

Das ungesunde Mindset des Präsentismus beginnt jedoch nicht erst im Arbeitsalltag, sondern schon früher. So sitzen beispielsweise schon Schulkinder mit Nasenspray und Hustenbonbons in der Klasse, weil die Eltern eine kleine Erkältung für nichts Ernstes halten. Teilweise bekommen die Kinder sogar Ärger, wenn sie ihre Eltern bitten zu Hause bleiben zu dürfen. In den Universitäten sieht es oft nicht anders aus. Studenten quälen sich trotz Fieber und Gliederschmerzen zur Uni, um ihren Kurs angerechnet zu bekommen. Denn neben den in der Regel zwei erlaubten Fehlzeiten pro Seminar, weigern sich einige Dozenten ein drittes Fehlen anzuerkennen – selbst mit offizieller Krankschreibung. Kein Wunder also, wenn dieses Mindset mit ins Arbeitsleben genommen wird.

Was kann man gegen Präsentismus tun?

Zunächst ist der wichtigste und schwerste Schritt, dass sich das Mindset von Unternehmen und Angestellten ändert. Es muss verstanden werden, dass Anwesenheit nicht gleich Produktivität bedeutet. Hier ein paar Wege, um dies zu erreichen:

  • Als Arbeitgeber klar kommunizieren, dass Krankmeldungen kein Problem darstellen
  • Kranke Mitarbeiter nach Hause schicken und ihnen erklären, dass sie gesund und fit am wertvollsten für das Unternehmen sind
  • Sich als Arbeitgeber oder Kollege abfällige Sprüche über die Fehlzeiten anderer Mitarbeiter sparen
  • Selbst erkennen, dass man zu krank zum Arbeiten ist
  • Nicht aus Bequemlichkeit auf den Gang zum Doktor verzichten
  • Sich die negativen Folgen von Präsentismus vor Augen halten

Es bleibt also zu hoffen, dass sich in den Köpfen von Arbeitgebern und -nehmern etwas ändert. Die Coronakrise dürfte einen großen Einfluss darauf haben, dass Krankheitssymptome in Zukunft ernster genommen werden und Mitarbeiter darauf verzichten, sich mit ihnen zur Arbeit zu schleppen. In jedem Fall darf sich der Trend Präsentismus nicht weiter ausbreiten.

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