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Die Mär von 8 Sekunden: Warum wir eine höhere Aufmerksamkeitsspanne als Goldfische haben

Die Mär von 8 Sekunden: Warum wir eine höhere Aufmerksamkeitsspanne als Goldfische haben

Tina Bauer | 16.06.17

Immer wieder hört man, unsere Aufmerksamkeitsspanne läge unter der eines Goldfisches. Dabei gibt es große Zweifel an dieser Behauptung.

Unsere Aufmerksamkeitsspanne ist mit 8 Sekunden kürzer denn je. Selbst Goldfische können sich länger auf eine Sache konzentrieren. Marketer müssen jetzt umdenken und kürzere, snackbare Inhalte produzieren. So jedenfalls der Tenor, als die Nachricht im letzten Jahr die Runde machte. Was aber, wenn die Nachricht zur Kategorie Fake News gehört und die Behauptung überhaupt nicht stimmt?

Das verspricht Aufmerksamkeit: Menschen erstmals unaufmerksamer als Goldfische

Mitte 2015 fand eine Studie von Microsoft Kanada weltweit mediale Aufmerksamkeit. Die Untersuchung stellte die Behauptung auf, Menschen hätten inzwischen eine geringere Aufmerksamkeitsspanne (8 Sekunden) als ein Goldfisch (9 Sekunden). Die Nachricht zog in Windeseile ihre Kreise und verbreitete sich auf allen Kontinenten. Nun war es soweit, wir entwickeln uns zurück. Schuld daran sind die vielen verschiedenen Einflüsse und Reize, denen wir täglich zunehmend ausgesetzt sind. Besaß eine Familie noch vor 20 Jahren etwa maximal einen Desktop-Rechner, um dessen Nutzung unter den Familienmitgliedern regelmäßg gestritten wurde, besitzt heutzutage fast jeder gleich mehrere internetfähige Geräte, die abwechselnd genutzt werden. Wir scrollen uns durch die Newsfeeds als seien wir auf der Flucht und posten Inhalte auf verschiedenen Plattformen, als hätten wir nie etwas anderes getan. Chapeau Goldfisch, du hast gewonnen!

Uns mit Goldfischen zu vergleichen ist schon lustig und aufmerksamkeitsfördernd. Und es ist auch bekannt, dass Medienkonsum in jeglicher Form dazu in der Lage ist, unsere Wahrnehmung und Aufmerksamkeitsspanne zu beeinflussen. Was die zahlreichen Studien jedoch übersehen, ist die überaus gute Fähigkeit unserer Gehirne sich anzupassen. Problematisch bei der Microsoft Studie ist, dass sie eine Definition des Wortes „Aufmerksamkeitsspanne“ vermissen lässt, dieses jedoch eine tragende Rolle in der gesamten Untersuchung einnimmt. Weiterhin ist es schwierig nachzuvollziehen, woher die Daten zu Goldfischen stammen. So konnte beispielsweise das Genetic Literacy Project ausschließlich eine australische Studie finden, die sich mit dem Erinnerungsvermögen von Goldfischen beschäftigt. Demzufolge können sich diese über Jahre hinweg an Dinge, wie etwa eine Futterquelle, erinnern.

Ursprung der Daten fragwürdig – Verbeitung umso schneller

Das Problem ist nicht die Microsoft Studie ansich. Die vermeintlichen Forschungsergebnisse wurden von renommierten Publishern von der TIME bis hin zur New York Times übernommen ohne sie auch nur einmal zu hinterfragen. Die in der Studie enthaltene Infografik über schwindende menschliche Aufmerksamkeitsspannen etwa stammt aus einer externen Quelle namens Statistics Brain.

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Infografik über unsere gesunkene Aufmerksamkeitsspanne. © Statistics Brain

Begibt man sich auf die Suche nach dem Ursprung der Quelle wird man nicht fündig. Auf einer Website, die ähnlich heißt, nämlich Statistic Brain, gelangt man an eine Statistik, die zwar die vermeintlichen Daten aufführt, jedoch auf eine Quelle von 2008 verweist. Zwar untersuchen die deutschen Wissenschaftler dort tatsächlich die Aufmerksamkeitsspanne in Verbindung mit der Webnutzung, nur leider viel zu früh.

Nebenbei wird der Goldfisch-Vergleich in der Microsoft-Studie, außer auf der Infografik, die aus einer externen Quelle stammt, überhaupt nicht erwähnt. Die Studie empfiehlt zu keinem Zeitpunkt, das Marketing auf diese 8-Sekunden-Spanne auszulegen, und auch nimmt sie weder auf die 8 Sekunden noch auf Goldfische Bezug. Das unter Marketern vieldiskutierte Untersuchungsergebnis basiert also auf einer einzelnen Grafik in einer sonst recht brauchbaren Studie und ist nichts weiter als eine Behauptung. In postfaktischen Zeiten glauben wir scheinbar schneller, was uns aufgetischt wird.

Effizientere Informationsverarbeitung: Wie sich die Aufmerksamkeitsspanne wirklich entwickelt

Wer jetzt enttäuscht ist, dass der Goldfisch-Vergleich unter Umständen gar nicht der Wahrheit entspricht, der kann sich beruhigen. Denn die menschliche Aufmerksamkeitsspanne ist tatsächlich im Wandel. So konnte die Studie belegen, dass  Multi-Screening oder die Nutzung Sozialer Medien die Wahrscheinlichkeit verringert sich auf eine Sache zu konzentrieren, die überaus langweilig ist. Marketer, die eine Social Media-affine Zielgruppe dazu bewegen wollen, über einen langen Zeitraum etwas langweiliges und sinnloses zu tun, sollten ihre Marketingstrategie also überdenken, so Jason Miller, Global Content Marketing Leader bei LinkedIn.

Tech adoption and social media usage are training consumers to become better at processing and encoding information through short bursts of high attention. (Microsoft Studie)

Darüber hinaus kam die Untersuchung zu dem Ergebnis, dass Menschen, die sich häufig mit digitalen Medien auseinandersetzen, Informationen intensiver und effizienter aufnehmen sowie Relevantes schneller herausfiltern. Wir haben dank der vielfältigen Möglichkeiten Medien zu konsumieren also die Fähigkeit entwickelt, mehr Informationen in kürzerer Zeit aufzunehmen und zu verarbeiten. Zusätzlich können wir heute besser denn je multitasken und die entscheidenden Inhalte schneller finden, die wichtig für uns sind.

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Grafik aus der Microsoft-Studie: Der Medienkonsum über mehrere Screens hinweg führt zu einer verbesserten Aufmerksamkeit, Content wird intensiver wahrgenommen und schneller aufgeschlüsselt. ©Microsoft Canada

Wer langweilt wird übersehen

Dass es sich in der Studie um eine kanadische Untersuchung handelt, ist durchaus zu vernachlässigen. Digitale Medien werden dort nicht sehr viel anders genutzt als in anderen westlichen Ländern. Die vielzitierte Infografik in der Microsoftstudie entbehrt aber jeder wissenschaftlichen Grundlage, konnte bis heute nicht bestätigt werden und verzerrt die eigentlichen Ergebnisse der Untersuchung. Was uns die Studie jedoch gezeigt hat, ist, dass wir sehr viel schneller darin geworden sind in der Fülle an Informationen relevanten Content für uns auszumachen. Das bedeutet für Marketer nur Eines: Die Inhalte müssen unsere Aufmerksamkeit erregen und nützlich sein. Das ändert nichts daran, dass der Content-Mix aus reichhaltigen, ausführlichen sowie kurzen und knackigen Inhalten eine gute Wahl ist, was das Engagement anbelangt. Nur eines sollten Marketer nicht tun: Ihre Zielgruppe unnötig langweilen, denn die kann heute viel besser und schneller über Relevanz entscheiden. Und verfügt zusätzlich tatsächlich über eine sehr viel bessere Konzentrationsfähigkeit als ihre schuppigen Freunde – nicht umgekehrt.

Kommentare aus der Community

Noel am 22.04.2020 um 13:47 Uhr

Danke für den Artikel! Werde das für mich Relevante raus ziehen.
Gerne gebe ich auch einen Gedanken preis, den ich hier beim Lesen hatte:

Es ist die Rede davon, dass wir „besser multitasken“, denn je. Dem würde ich nach dem heutigen Kenntnisstand in der Psychologie erwidern, dass es sowas wie „Multitasking“ nicht gibt. Zumindest nicht, wenn man damit – so wie ursprünglich angenommen – mehrere Arbeitsprozesse gleichzeitig und in gleichhoher Qualität bewältigt. Dies ist leider auch so eine Mär. Wie die Mär, von welcher Sie geschrieben haben.

In diesem Sinne – besten Dank nochmal für den Input und die Mühe und alles Gute!

Grüße aus Köln!

Noel H.

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Coolray am 24.03.2018 um 11:50 Uhr

Klar..es kann nicht sein was nicht ins Konzept passt. Aber ich muss ihnen leider mitteilen das die Aufmerksamkeitsspanne permanent ab nimmt. Oder was meinen sie warum Kinobesucher Filme mit langen Einstellungen als Langweilig empfinden. Die gleichen finden aber Filme cool bei denen im Sekundentakt die Schnitte gesetzt werden ??

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hans am 03.02.2019 um 11:43 Uhr

ab nimmt =abnimmt*

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Martin am 17.06.2017 um 01:05 Uhr

Dass Menschen eine kürzere Aufmerksamkeitsspanne BESITZEN als Goldfische, hat ja ohnehin niemand geglaubt – der Unterschied liegt im WOLLEN: offenbar wollen wir uns nicht mehr länger als 8 Sekunden mit einem Thema/Headline beschäftigen…

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Andreas am 02.01.2017 um 09:10 Uhr

Was vielleicht auch nicht ganz unwichtig ist, sind die unterbewussten Wirkungen von Botschaften über das Netz, auch von Werbebotschaften. Da läuft viel unterschwellig über den Autopiloten und wir nehmen darüber mehr wahr und werden stärker beeinflusst, als es uns lieb ist.

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